Afghanistan

by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Thomas Ruttig

 

2013 lebten Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) zufolge weltweit 2,56 Mio. afghanische Flüchtlinge außerhalb ihres Herkunftslandes – mehr als aus jedem anderen Land (vgl. Ausgabe 6/14). Afghanistan führte in 86 Ländern die Rangliste der wichtigsten Flüchtlingsherkunftsländer an (vor Syrien und Somalia); die meisten dieser Flüchtlinge haben in Iran und Pakistan Zuflucht gefunden. In der EU stellten im vergangenen Jahr 26.200 Afghanen einen Asylantrag.

Aktuelle Konfliktsituation

 

Mit dem Ende des Jahres 2014 lief das Mandat für die NATO-geführte ISAF-Truppe aus. Damit ist die Wiederherstellung der Souveränität Afghanistans formal abgeschlossen. Allerdings bleiben die NATO-Nachfolgemission "Resolute Support" (RS) sowie eine gesonderte US-Mission unter der Bezeichnung "Freedom’s Sentinel" vorerst im Land. RS wird aus etwa 13.500 Soldaten bestehen und soll vor allem die afghanischen Streitkräfte (ANSF) weiter ausbilden und logistisch unterstützen.

 

28 NATO-Mitgliedsländer sowie 14 andere Staaten beteiligen sich. Deutschland hat bis zu 850 Bundeswehr-Angehörige zugesagt. Das größte Kontingent kommt mit 10.800 aus den USA. Zumindest einige der einige tausend Mann Spezialeinheiten, die weiterhin Aufgaben der Terrorbekämpfung wahrnehmen, operieren außerhalb der RS-Struktur. Auch innenpolitisch ist das Land mit der Amtsübernahme des neuen Präsidenten, Muhammad Aschraf Ghani, Ende September in eine neue Phase eingetreten.

 

Mit seinem Hauptwidersacher bei der Präsidentenwahl 2014, Dr. Abdullah, bildete er eine "Regierung der nationalen Einheit", da beide sich – nach erneut massiven Fälschungen und der Unfähigkeit, diese aufzuklären – nicht auf ein offizielles Wahlergebnis einigen konnten. Erst die politische Intervention der US-Regierung führte zu diesem Kompromiss, der darin besteht, für Abdullah das in der Verfassung nicht vorgesehene Amt des Ministerpräsidenten (offiziell "Chief Executive Officer")zu schaffen.

 

Dass er das Amt annahm, zeigt aber auch, dass er indirekt den Wahlsieg Ghanis akzeptiert hat. Es ist bereits klar, dass die laut Verfassung spätestens für Juni 2015 vorgesehene Parlamentswahl sowie die bereits mehrmals ausgefallenen Distriktratswahlen frühestens im Spätsommer stattfinden können. (Afghanistan besteht aus 34 Provinzen, die sich in etwa 400 Distrikte unterteilen.)Die Regierung Ghani-Abdullah sieht das Land nun in eine zehnjährige Transformationsphase eintreten. An deren Ende soll Afghanistan ein "normales Entwicklungsland" sein, also mit stark reduzierter Abhängigkeit von externen Finanzressourcen. Gegenwärtig werden laut Weltbank noch rund 85% der Staatsausgaben mit Auslandshilfe finanziert.

 

Doch die Zuwendungen sind seit 2010 stark rückläufig. Der größte Geber, die USA, reduzierte seine Finanzhilfe zwischen 2010 und 2012 von 4,5 auf 1,8 Mrd. Dollar. 2013 trat Afghanistan in eine verschärfte Wirtschaftskrise ein. Das Wirtschaftswachstum – von 2002 bis 2012 durchschnittlich neun Prozent – fiel 2014 auf 1,5%. Eine weitere Ursache für den Einbruch ist, dass das Wachstum zu großen Teilen Ausdruck der Milliarden-Aufträge des nun abziehenden westlichen Militärs gewesen war.

 

2014 stand Afghanistan mehrmals am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Teile des öffentlichen Sektors erhielten über Monate kein Gehalt. Sondertransfers sorgen dafür, dass die ANSF bezahlt wurden und der Regierung gegenüber loyal blieben. Große Hoffnungen hängen an den erheblichen Rohstoffvorkommen. Wegen fehlender Infrastruktur und der prekären Sicherheitslage werden diese aber erst mittelfristig erschlossen werden können.

 

Das US-afghanische Verhältnis hat sich seit der Amtsübernahme Ghanis entspannt. Als eine der ersten Amtshandlungen unterzeichnete er das Bilaterale Strategische Abkommen (BSA) mit den USA, das auch die Grundlage für die RS-Mission bildet. Ohne die logistischen Fähigkeiten der USA wäre die neue NATO-Mission nicht handlungsfähig. Zudem sichert das Abkommen den US-Streitkräften die Nutzung einer Reihe afghanischer Militärbasen zu. Karzai hatte bis zuletzt seine Unterschrift verweigert.

 

Die internationale Gemeinschaft hat sich verpflichtet, bis Ende 2016 die jährlichen Unterhaltskosten für die rund 352.000 Mann starken ANSF von rund 4 Mrd. Dollar zu tragen. Aus Kostengründen sollen diese dann bis 2017 jedoch wieder auf 230.000 verringert werden. Schon jetzt ist die Motivation der ANSF in Teilen niedrig, die Zahl der Abgänge und Desertationen bleibt hoch, Verluste im Kampf nahmen 2014 weiter zu.

 

Insgesamt verlieren die ANSF in jedem Jahr ein Drittel ihres Mannschaftsbestandes. Netzwerke früherer Bürgerkriegsmilizen durchsetzen ihre Strukturen. Allerdings scheint die Akzeptanz in der Bevölkerung zuzunehmen, auch wenn es weiterhin Berichte über zivile Opfer gibt, die auf das Konto der ANSF gehen.

 

Der parallel fortschreitende Aufbau milizähnlicher Verbände verdeutlicht, dass die westlichen Geber den regulären Streitkräften misstrauen. Während die Milizen örtlich Erfolge gegen die Taliban verzeichnen, sind zugleich Übergriffe auf Zivilisten bekannt geworden. Ihre Existenz stellt ein zusätzliches Konfliktpotenzial für die Zukunft dar. Insgesamt bleibt fraglich, ob die ANSF eigenständig die Sicherheit im Land gewährleisten und den bewaffneten Aufständischen widerstehen können.

 

Die Taliban und andere Aufständische sind in unterschiedlicher Intensität weiter in allen Landesteilen aktiv. Trotz erheblicher Verluste auf mittlerer Kommandeursebene sind ihre Strukturen ungebrochen. 2014 nahm das Ausmaß ihrer militärischen und terroristischen Aktivitäten gegenüber dem Vorjahr noch einmal deutlich zu und bewegte sich etwa auf dem Niveau des Spitzenjahres 2012.

 

Die Taliban operierten wieder offener und in größeren Verbänden, bedrohten Provinz- und Distriktzentren und nutzten dabei die Reduzierung der westlichen Truppen. In einigen Gebieten mussten sie aber auch Rückschläge hinnehmen. Die ANSF kontrollieren weiter alle Provinzhauptstädte, während wichtige Straßenverbindungen ebenfalls zunehmend unter Druck gerieten.

 

Die Regierung Obama sah sich gezwungen, die Luftunterstützung für die ANSF wieder auszuweiten. In diesem Prozess nahm die Zahl der zivilen Opfer weiter zu, 74% davon gehen auf das Konto der Aufständischen. Vor allem die Zahl der Opfer von Gefechten nahm zu. Das ist ein weiteres Zeichen für eine Intensivierung der Kampfhandlungen. Zusätzliches Konfliktpotenzial besteht im hohen Niveau der Militarisierung der afghanischen Gesellschaft und dem erneuten Bedeutungsgewinn von Warlords und früheren Bürgerkriegsfraktionen, die mit dem Abzug der ISAF-Truppen ihren Aktionsbereich ausdehnen.

 

Negativ wirkt sich weiterhin die Drogenwirtschaft aus, die wegen des verringerten Drucks im Zuge des Disengagements des Westens sowie auch der Wirtschaftskrise wieder expandiert.

Die Anbaufläche war 2014 höher als je zuvor. Mit 5.500 Tonnen produzierte Afghanistan 80% des weltweiten Opiums.

 

Ursachen und Hintergründe

 

Die Ursachen für die heutigen Konflikte in Afghanistan liegen in Auseinandersetzungen zwischen Modernisierungsbefürwortern und -gegnern, die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert zogen und im Kontext des Kalten Krieges internationalisiert wurden und eskalierten. Die seit der Reformperiode unter König Amanullah (1919-29) entstehenden gebildeten Schichten wurden nicht in den stagnierenden, renten-orientierten Staat integriert. Die US-geführte Intervention westlicher Staaten, die 2001 begann, hat diesen Grundkonflikt nicht gelöst, sondern nur noch weiter verstärkt. In ihrem Ergebnis gelangten islamisch-konservative und islamistische Kräfte in Schlüsselpositionen in Regierung, Parlament, Justiz und Sicherheitskräften. Dazu gehören der islamistisch dominierte Rat der Islamgelehrten (Ulema) sowie der inoffizielle Kreis der sogenannten Dschihad-Führer, die die engsten Berater von Ex-Präsident Karzai waren. Sie haben an demokratischen Verhältnissen und einer modernen, transparenten Regierungsführung wenig Interesse.

 

Die umstrittene und von Bürgerkriegsdrohungen begleitete Wahl zeigte, dass die politischen Institutionen des Landes unter dem System Karzai schwach blieben und die politischen Eliten die Bedeutung demokratischer Verfahren nicht verinnerlicht haben. Die Gewaltenteilung funktioniert nicht, der Aufbau und die Stärkung des Rechtsstaats wurden von Gewalt und Korruption untergraben.

 

Der neue Präsident Ghani ringt zwar um bessere Regierungsführung. Aber dem stehen tief verwurzelte Patronage-Netzwerke im Weg. Deren Einfluss kann er nur langfristig und schrittweise zurückdrängen. Beweis dafür ist die langwierige Kabinettsbildung, die Anfang Februar nach über vier Monaten immer noch nicht abgeschlossen war. Das Parlament ist wegen des Verbots parteigestützter Fraktionen zersplittert und widersetzt sich als Reaktion auf die Manipulationen der Karzai-Ära weiterhin prinzipiell der Exekutive. Die Justiz gilt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen.

 

Politische Netzwerke konkurrieren um wirtschaftlichen Einfluss und knapper werdende Ressourcen und bilden dabei oft mafiöse Züge aus, vor allem wenn sie mit der Drogenökonomie verbunden sind. Konservative und Islamisten leisten Widerstand gegen als "westlich" denunzierte Reformen, etwa bei den Menschenrechten. Ex-Mudschaheddin, Ex-Taliban und Ex-Kommunisten im Parlament haben 2010 eine Selbstamnestie für Kriegsverbrechen der Vergangenheit durchgesetzt.

 

Für demokratische Kräfte bleibt so wenig Raum. Die derzeitige Aufstandsbewegung ist mehr Symptom denn Ursache dieser Grundkonflikte. Der zivile Wiederaufbau seit 2001 blieb trotz massiven Ressourceneinsatzes der internationalen Gemeinschaft Stückwerk. Die Gesamtausgaben für den Afghanistan-Einsatz werden zwar auf etwa 1 Billion US-Dollar beziffert, aber davon gingen – je nach Zählweise - nur 60 bis 100 Mrd. US-Dollar in die zivilen Sektoren. Davon wiederum blieb laut Weltbank nur weniger als ein Viertel im Land. Das meiste floss in die Geberländer zurück. Zudem verzehren die erhöhten Sicherheitskosten einen Großteil der Entwicklungsgelder.

 

Die Bundesregierung erklärte in ihrem Afghanistan-Fortschrittsbericht von November 2014, sie könne nicht sicher sein, ob die Investitionen in Entwicklung nachhaltig sein werden.

 

Im Ergebnis gehört Afghanistan immer noch zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt (LLDC), auch wenn es sich auf dem UN-Index der menschlichen Entwicklung von Platz 192 auf 175 verbessert hat. Nach dem sog. "multidimensionalen Armutsindex" stand das Land 2012 auf Position 96 unter 105 Entwicklungsländern, nach Geschlechtergerechtigkeit auf dem drittletzten Platz. 7,4 Mio. seiner etwa 26 Mio.

 

Einwohner leiden unter akuten Nahrungsmittelproblemen, weitere 8,5 Mio. sind davon akut bedroht. Nur 27% der Bevölkerung haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, 5% zu hygienischen Sanitäreinrichtungen.

 

Das Niveau in Schulen und Hochschulen ist im internationalen Vergleich extrem schwach. Die prekäre Sicherheitslage begrenzt zudem vor allem für Frauen und Kinder den Zugang zu sozialen Einrichtungen.

 

Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht Afghanistan unter 182 Ländern auf Platz 180.Konfliktkatalysator sind die gespannten Beziehungen mit dem Nachbarland Pakistan.

 

Mit seiner Staatsgründung 1947 erbte Pakistan einen Teil der Siedlungsgebiete der Paschtunen, deren Abtrennung von Afghanistan Großbritannien 1893 durchsetzte. Beide Länder unterstützen seither gegenseitig Autonomie-, Sezessions- und ideologische Aufstandsbewegungen, um ihre jeweiligen eigenen Interessen zu befördern. Die pakistanische Unterstützung für die afghanischen Taliban ist nur das jüngste Beispiel. Auch andere Staaten der Region tragen ihre Konflikte in Afghanistan aus.

 

Terroristische pakistanische Gruppen wurden von den Streitkräften des Landes ursprünglich gefördert, um sie im Streit mit Indien um Kaschmir einzusetzen; jetzt sind sie auch in Afghanistan aktiv. Indien versucht, durch intensive Beziehungen mit Afghanistan dagegen zu halten.

 

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

 

Ansätze für eine politische Regulierung der Konflikte setzten viel zu spät ein; die Bush-Regierung verweigerte jahrelang alle Kontakte mit den Taliban. Erstkontakten der USA mit den Taliban Anfang 2012 in Katar scheiterten an der Umsetzung vertrauensbildender Maßnahmen. Zudem bezogen die USA die afghanische Regierung nicht ein. Dem Gesprächsansatz fehlen weiterhin grundlegende Voraussetzungen. Die USA befinden sich im politischen Disengagement-Prozess, die Kabuler Regierung hat weiterhin keine geschlossene Strategie. Die Taliban weigern sich nach wie vor, mit der "Marionettenregierung" in Kabul zu sprechen, und hoffen auf eine militärische Lösung zu ihren Gunsten.

 

Konfliktgeschichte

 

Der afghanische Staat begann 1973 zu wanken, als die Monarchie unzureichend auf eine mehrjährige Dürreperiode reagierte und durch einen Putsch gestürzt wurde. Der Putsch beendete eine 40-jährige Periode weitgehenden inneren Friedens. Gegen einen weiteren Staatsstreich afghanischer Kommunisten am 27. April 1978 und ihre von oben verordneten Reformen formierte sich schnell breiter Widerstand.

 

Es begann ein langer Bürgerkrieg. Bereits existierende kleine Guerillagruppen erhielten die Unterstützung Pakistans. Die Entsendung sowjetischer Truppen Ende 1979 internationalisierte die Auseinandersetzungen. Die Mudschaheddin-Gruppen wurden über Pakistan durch die USA und Saudi-Arabien militärisch und finanziell unterstützt. Pakistan förderte einseitig islamistische Fraktionen und drängte säkulare linke, nationalistische und monarchistische Widerstandsgruppen ins Abseits.

 

Nach dem Truppenabzug im Februar 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Einstellung der Finanzhilfe an Kabul durch Russland im Folgejahr übernahmen die Mudschaheddin im April 1992 die Herrschaft in Kabul. Versuche verschiedener Fraktionsführer, die Macht zu monopolisieren, mündeten in einen neuen Bürgerkrieg. Dies nutzten die von Pakistan unterstützten Taliban, um schrittweise die Macht zu übernehmen.

 

Im Jahr 1996 nahmen sie auch Kabul ein, riefen ein Islamisches Emirat aus und gewährten Al-Qaida-Gruppen Zuflucht, die bereits zuvor nach Afghanistan eingewandert waren. Die Radikalität der Taliban und die Verletzung internationaler Standards der Menschenrechte führten in die außenpolitische Isolation. Nach dem 11. September 2001 wurde das Regime zum ersten Ziel des "Kriegs gegen den Terror" der Bush-Administration, weil es sich weigerte, Al-Qaida-Anführer Osama bin Laden, den mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge, auszuliefern.

 

Mit dem "Bonner Prozess" auf der Grundlage des Petersberger Abkommens vom 5. Dezember 2001 wurde der Neuaufbau politischer Institutionen eingeleitet, die dem Staat seine Handlungsfähigkeit zurückgeben sollten. Formal wurde durch die Präsidentschaftswahlen 2004 und 2009 und die Parlamentswahlen von 2005 und 2010 ein demokratischer Prozess eingeleitet. Korruption, Ineffizienz und mangelnde Bereitschaft zur Machtteilung haben jedoch verhindert, dass sich demokratische Strukturen konsolidieren.

 

Alle Zahlenangaben Stand Januar 2015.