
Quelle: Die WELT 24.10.2015 Von Susanne Gaschke
Flüchtlingsheim
Zu Besuch im Ausnahmezustand
Unsere Autorin ist in eine Notunterkunft für Asylbewerber gezogen. Ein Plädoyer für Mitgefühl.
Wenn durch die Bomben der größte Teil des Landes, der größte Teil der Stadt in Ruinen läge? Wenn das Haus, in dem du und deine Familie lebt, Löcher in den Wänden hätte? Wenn alle Fensterscheiben zerbrochen, das Dach weggerissen wäre.
Mit diesen Fragen beginnt Janne Tellers bewegender Essay "Krieg. Stell dir vor, er wäre hier". Die dänische Autorin zwingt den Leser darin zu einer ganz einfachen Übung in Empathie: Was, wenn unsere Welt zerbräche, die Demokratie, der Wohlstand, was, wenn die Freiheit abhandenkäme über Nacht? Es geht in dem kurzen Text nicht um politische Wahrscheinlichkeit. Es geht um das Mitfühlen und Verstehen.
Weil ich wenigstens versuchen will zu verstehen, wie sich ein Flüchtling fühlt, der nach Deutschland kommt, ziehe ich am vergangenen Mittwoch in eine Notunterkunft für Asylbewerber, für 24 Stunden. Ich bilde mir nicht ein, dadurch irgendeine Art von Wahrheit zu erobern. Aber vielleicht werde ich ein bisschen mehr verstehen als vorher.
Ich packe einen Jutebeutel, weil ich im Heim nicht mit einer Handtasche ankommen will. Später sehe ich, dass ich das durchaus hätte tun können. Viele Flüchtlingsfrauen klammern sich an Handtaschen, ob aus der Heimat hierher gerettet oder aus der Kleiderkammer – Handtaschen sind ein Symbol für einen Rest bürgerlicher Würde.
Ich packe Tellers Büchlein ein, meine Brille, Anti-Bluthochdrucktabletten, ein Handtuch. Das Smartphone. Ich gehe zu Fuß zur Notunterkunft. Die Heimleitung weiß natürlich, dass ich kommen würde. Sie machen engagierte Pressearbeit, weil sie überzeugt sind, dass nur Transparenz und eine sachliche Auseinandersetzung mit Problemen eine negative Stimmung in der Bevölkerung verhindern können. Außerdem sind sie angewiesen auf Spenden und ganz besonders auf die Hilfe von Freiwilligen – ohne freiwillige Helfer würde hier gar nichts funktionieren. 150 bis 200 Ehrenamtler arbeiten Tag und Nacht im Schichtbetrieb. In vielen anderen Lagern haben sie nicht einen einzigen.
Im Aufnahmebüro fülle ich einen Anmeldebogen aus. Das muss jeder Flüchtling, damit der Arbeiter-Samariter-Bund, Träger des Heims im ehemaligen Rathaus von Berlin-Wilmersdorf, die Kosten für die Unterbringung vom Land Berlin erstattet bekommt. Für mich kein Problem, für Menschen, die nur Arabisch oder Farsi sprechen, eine erste schlimme Hürde – denn jeder Fehler, jede Abweichung in den unzähligen Anträgen, die später zu stellen sind, kann eine bürokratische Katastrophe hervorrufen, Doppelvorgänge, unentwirrbare Verwaltungsverknotungen.
Patricia, eine katholische Theologin, die auf einer halben Stelle unzählbare Wochenstunden arbeitet (wie alle hier), klebt mir das blaue Armband aus imprägniertem Papier um, das jeder Flüchtling trägt. Bei mir schreibt sie "Gast" drauf, der normale Heimbewohner bekommt eine Nummer. Die braucht er für die Essens-, Kleider-, Hygieneartikelausgabe. Etwa 850 Menschen wohnen gegenwärtig in dem imposanten Rathausgebäude, darunter fast 300 Kinder. Die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Insgesamt sind 17 Nationen vertreten.
Thomas und Philipp, Leiter und stellvertretender Leiter der Einrichtung, bringen mich zur Kleiderkammer. Dort bekomme ich mein Erstaufnahmepaket, einen blauen Plastiksack (die erste deutsche Mülltüte!) mit Kopfkissen, Bettdecke, neuer Polyesterbettwäsche, Handtuch und Waschzeug. Weiter geht es zu meinem Zimmer in der ehemaligen Wohngeldabteilung, ein Herr Ringwelski war hier einmal für "Hauptsachbearbeitung/Lastenzuschuss" zuständig.
Alle alten Rathausschilder hängen noch an den Türen. Es ist, als ob sich über den Sozialstaat, den wir kannten, und dessen Hauptsorgen "Unterhaltsvorschuss" oder "Kita- und Hortplatzvergabe" hießen, ein neuer gelegt hat. Jetzt wird hier geschlafen, dort Deutsch gelernt, an einem dritten Ort kommen in der psychologischen Betreuung unfassbare Traumata zur Sprache.
Das Zimmer ist leer bis auf zwei Doppelstockbetten mit neuen Schaumstoffmatratzen. Ich darf es allein bewohnen, was gegenüber den anderen Flüchtlingen ein großer Vorteil, aber auch nicht völlig unrealistisch ist. In der Unterkunft werden Familien grundsätzlich gemeinsam untergebracht, junge Männer zu dritt, auch wenn sie sich nicht kennen.
Allein flüchtende Frauen gibt es praktisch nicht. Mit dieser Form der Belegung ist das Wilmersdorfer Rathaus die pure Luxuseinrichtung – gegenüber Massenquartieren in Turn- und Mehrzweckhallen. Allein im Berliner Kongresszentrum leben 1200 Flüchtlinge fast ohne jede Privatsphäre.
Trotzdem gibt es auch hier Konflikte. Gewalt gegen Kinder, Gewalt unter Kindern, Gewalt gegen Frauen. Die Leute kommen aus Gegenden, wo Krieg die Lösung der Probleme war. Es wird gestohlen. Deshalb raten mir Thomas und Philipp, mein Erdgeschossfenster zum Innenhof nicht offen stehen zu lassen. Im Gegensatz zu allen anderen Zimmern ist der Raum von außen (allerdings nicht von innen) abschließbar. Ich kann also meine persönlichen Dinge gefahrlos dort lassen. Aber ich will das nicht. Besonders das Smartphone, das ich schon im Alltag schlecht weglegen kann, wird zum Fetisch, jede SMS sehnlichst erwartet. Den Flüchtlingen geht es genauso. Hastiges Taschen-Abklopfen – habe ich noch alles? – wird rasant zur Gewohnheit.
Zwischen Mittagessen und Abendbrot wird mir klar: Wenn ich, wie die meisten hier, seit August auf meine Zukunft warten würde, wäre ich sicher schon unglaublich fett geworden. Denn das Essen in der ehemaligen Rathauskantine bringt Struktur in den Tag. Essen heißt, etwas Angenehmes zu tun, überhaupt etwas zu tun.
Das Essen ist gut, vielleicht etwas zu weißmehl-, sicher zu zuckerlastig. In den Herkunftsländern isst man süß. Süßigkeiten und Nutella-Ersatz-Creme mindern auch den Stress der Helfer, von denen viele leidenschaftlich und bis über die Belastungsgrenze hinaus arbeiten. Alle zwei Wochen schickt die Berliner Sparkasse, die auch sonst viel für die Einrichtung unternimmt, 30 Kilo Cornflakes. Die Flüchtlinge mögen Cornflakes.
Natürlich könnte man irgendetwas tun. Sport treiben. Die Stadt erforschen. Das Heim, das ja längst von einer Notaufnahmestelle zu einer langfristigen Unterkunft geworden ist, macht dazu zahlreiche Angebote. Es gibt Deutschunterricht. Aber willst du täglich durch eine reiche Stadt laufen, die dir nur wieder und wieder vor Augen führt, was du nicht haben kannst?
Wie motiviert treibt man Sport im Angesicht vollkommener Ungewissheit? Warum heißt es: "Das ist ein Apfel", aber "Ich möchte einen Apfel"? Was nützt dir der deutsche Akkusativ, wenn du Eltern oder Kinder auf der Flucht verloren hast? Ein zentrales Vermissten-Register gibt es in dieser Flüchtlingskrise nicht – wie so vieles andere auch nicht. Also steht man im Innenhof, lungert in den Zimmern oder auf den Gängen herum, unterhält sich, streitet. Es ist laut, immer.
Es ist laut, besonders am späten Nachmittag. Der Lärm erzeugt Stress. Die allgemeine Anspannung erzeugt Stress. Erst sehr spät abends kehrt eine Art von Ruhe ein. Helfer und diejenigen Flüchtlinge, die zum Funktionieren des Heims beitragen, versammeln sich rund um die Helferbüros. Auch Silva, 17, die sehr gut Englisch spricht und viel dolmetscht. "Where are you from?" "From Syria", sagt sie und lächelt. "Are you here with your familiy?" "My father", antwortet sie leise – und lächelt nicht mehr. Von den Betreuern erfahre ich, wie ihre Mutter starb. Was, um Gottes Willen, sagt man in einer solchen Situation, das nicht nach hohler Phrase klingt? "I am sorry for your loss"?
Als spät, sehr spät, Patricia als letzte geht – nachdem sie dreimal ihren Mantel wieder ausgezogen und den Computer wieder hochgefahren hat, um Menschen mit wichtigen Dokumenten für den Überlebenskampf bei der Behörde zu versorgen – muss ich mich meinem eigenen Dämon stellen.
Schon als Kind quälte mich schreckliches, lähmendes Heimweh. Es dauerte sehr lange, bis ich gern bei Freunden übernachtete. Auch heute schlafe ich nur ungern allein in der Fremde. Und nun hier? In diesen hallenden Fluren, mit diesen vielen Menschen, den fremden Stimmen? Wo sie sicher Gründe dafür haben, 18 Wachleute zu beschäftigen, die wie Kleiderschränke aussehen? Ich laufe durch die Nacht, durch die Nachbarstraßen, wo einige Anwohner Angst vor dem Wertverlust ihrer Immobilie haben. Ich hätte einfach nach Hause gehen können, auch wenn es gedauert hätte. Wer von den 850 Menschen in dem großen, inzwischen dunklen Gebäude, hat kein Heimweh?
Die englische Sprache hat für manches treffendere Ausdrücke als die deutsche: "bone weary", "the dead of night". Als ich "knochenmüde" bin, so müde, dass ich einfach nicht mehr weiterlaufen kann "in der toten Stunde der Nacht", lege ich mich in mein fremdes Bett.
Aber der Schlaf will nicht kommen. Ich schrecke hoch bei jedem Wort, das auf dem Flur gesprochen wird. Und jedes Mal, wenn die automatischen Schwingtüren aufknallen und das Neonlicht angeht. Ich liege wach und denke über alles nach, was ich in den vergangenen Jahren falsch gemacht und verloren habe. Was denkt jemand, der aus seiner Heimat geflohen ist "in der toten Stunde der Nacht"? Mein Handtuch riecht nach zu Hause, ein wenig. Ich hielt es fest.
Morgens werfe ich einen Blick in die sehr sauberen Containerduschen draußen und beschließe, dass ich trotzdem nicht duschen will. Nach dem Frühstück begleite ich – schwarzfahrend wie die Flüchtlinge, was sie immer beschämt – einige von ihnen zum Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Dort müssen sie Existenzielles klären. Hunderte von Menschen warten auf dem Gelände. Sie stehen Schlange von morgens drei bis 16 Uhr. Dann heißt es: Sorry. Heute geht nichts mehr. Das Lageso ist Bürokratie in apokalyptischer Form.
Zurück in der Einrichtung hole ich meine Sachen aus dem Zimmer. Es ist erstaunlich, wie schnell der Mensch zu denken beginnt: mein Zimmer. Mein Schlafplatz in der Turnhalle, mein Schlafplatz im Zelt. Flucht. Stell dir vor, du müsstest fliehen.