
Quelle Rhein-Neckar Zeitung 18.8.2015 Daniel Bräuer
Smartphones - Wörterbuch, Atlas, Kontakt-zentrale in einem -boomen längst auch in den Herkunftsländern
Bild: Angekommen: Eine Gruppe Syrer hat mit dem Schlauchboot die griechische Insel Lesbos erreicht. Der Moment wird als "Selfie"-Aufnahme festgehalten. Foto: dpa
Der junge Mann aus Syrien wollte in Meßstetten gerade seinen Asylantrag abgeben - als sein Telefon klingelte. Seine Frau. In Seenot geraten vor der türkischen Küste.
Schreie sind zu hören, das Rauschen des Windes. Der Mann in Meßstetten drückt das Handy einem deutschen Polizisten in die Hand. Der informiert Vorgesetzte in Tuttlingen, von dort weiter bis hin zu Behörden im Ausland - und tatsächlich wird wenig später ein volles Flüchtlingsboot in der Ägäis aufgegriffen. Die Frau überlebt.
Eine bewegende Geschichte. Und auch wenn laut Recherchen des SWR die türkische Küstenwache sehr wahrscheinlich schon alarmiert war, bevor der Notruf auf dem Umweg über Deutschland erneut eintraf: Die Episode verdeutlicht, wie wichtig für Menschen auf der Flucht ihr Smartphone sein kann. Und doch provozieren Bilder von Flüchtlingen mit Smartphone regelmäßig skeptische Reaktionen. Tenor: Wie können sich die angeblich Armen und Verfolgten diesen Luxus überhaupt leisten?
Flüchtlingshelfer halten das für eine Neiddebatte - oder gar das gezielte Schüren von Ressentiments. "Das Smartphone ist für Flüchtlinge das wichtigste Eigentum überhaupt", betont Gudrun Sidrassi-Harth, Vorsitzende des Asyl-Arbeitskreises Heidelberg. Mit Luxus habe das nichts zu tun. "Man muss sich nur mal in deren Lage reinversetzen."
Schon auf der Flucht helfen die digitalen Alleskönner bei der Orientierung via GPS. In Europa angekommen, erleichtern etwa Übersetzungs-Apps die Verständigung vor Ort. Sidrassi-Harth verweist auch auf netzbasierte, interaktive Deutschkurse, die während der langen Wartezeit bis zum Asylbescheid "sehr, sehr gerne genutzt werden", wie sie mitbekommen hat.
Vor allem aber ermöglichen Smartphones es Betroffenen, mit ihren versprengten Familien in Kontakt zu bleiben, mit Angehörigen, die womöglich in Libyen oder anderswo hängen geblieben sind. "Wo sind die? Wie geht es denen? Haben sie zu essen, zu trinken?", beschreibt Sidrassi-Harth die Gefühlslage.
Die Kommunikation findet meist über Facebook, WhatsApp oder das Internettelefon Skype statt. Flatrates und offene W-LAN-Hotspots machen es möglich. Sidrassi-Harth fordert einen solchen Zugang für alle Unterkünfte in Heidelberg, nicht nur in Patrick-Henry-Village. Sicher ist: Teure Telefonkosten - ein oft vorgebrachter Einwand - entstehen kaum. "Ich kenne keinen, der mit Roaming-Gebühren arbeitet", sagt Sidrassi-Harth. "Den deutschen Steuerzahler kostet das gar nichts!"
Und das gilt auch für die Anschaffung. Denn Handys sind in Herkunftsländern wie Syrien oder Irak ohnehin stark verbreitet. Auch im südlichen Afrika hat ihre Nutzung "exponentiell" zugenommen, wie das US-Institut Pew kürzlich etwa für Ghana und Kenia festgestellt hat: Von Werten unter zehn (2002) auf über 80 Prozent (2014).
Festnetz ist vielerorts praktisch nicht vorhanden (einstellige Prozentzahlen der Haushalte). Wer telefoniert, tut das mit dem Handy. Und so sind auch Smartphones auf dem Vormarsch - bei Jungen mehr als bei Älteren, bei Männern mehr als bei Frauen.
Telefon, Kontaktzentrale, Nachrichten, Bankzugang - Vorzüge, die viele Flüchtlinge längst erfahren haben, ehe sie zu Flüchtlingen werden. Oder wie es ein Nutzer kürzlich auf rnz.de formulierte: "Wenn ich vor dem IS fliehen würde, würde ich auch nicht mein iPhone wegschmeißen."